Achtung Pilzberater (und Sammler)! Stielbasisregel bei Egerlingen gilt bei uns nicht mehr zu 100%

Es gibt 15 Antworten in diesem Thema, welches 10.412 mal aufgerufen wurde. Der letzte Beitrag () ist von EmilS.

  • Servus beinand,


    wer kennt sie nicht, die "Champignon-Regel"? Schneidet man einen Egerling durch und er gilbt sofort und stark in der Stielbasis, so ist er giftig - er gehört dann zu den Karbolegerlingen i.w.S. Diese Aussage ist natürlich nach wie vor richtig. Aber...


    Ja, das aber schreibe ich bewusst groß. Also: aber: gilbt der Champignon nicht in der Stielbasis, so kann er dennoch giftig sein.


    Zwei konkrete Beispiele:


    Agaricus freirei sieht aus wie ein Waldchampignon, rötet deutlich im Fleisch und gilbt gar nicht. Er riecht aber schwach nach Karbol und ist nah mit dem Rebhuhnegerling verwandt, der auch im Fleisch rötet und als der klassische, giftige Doppelgänger der Waldegerlinge gilt. Nur gilbt der Rebhuhnegerling in der Stielbasis. Agarius freirei eben nicht.


    Ist das neu? Nein, natürlich nicht. Aber Agaricus freirei war bislang aus Südfrankreich, Spanien, Italien bekannt. Jetzt findet man eine Fundmeldung westlich von Berlin (auf der pilze-deutschland-Seite). Er scheint also angekommen zu sein.


    Und noch konkreter das zweite Beispiel: Agaricus pseudopratensis, der Falsche Wiesenegerling. Ich hatte ihn bisher erst einmal vor ein paar Jahren in Österreich finden können (Südhanglage, sonnenexponiert) und jetzt wurde er zu unserer kleinen Pilzausstellung auf dem Baumwipfelpfad im Bayerischen Wald gebracht. Gewachsen ist er bei Marktl/Simbach, Innleite, Südhangkessel, sehr wärmebegünstigt. Fotos dieser Kollektion findet ihr im Parallelthread im BMG-Forum: Achtung Pilzberatung bei Egerlingen - Stielbasisregel greift nicht mehr!


    Dieser Egerling hat jung schön rosa Lamellen, der Ring ist dünn und flüchtig, er wächst in Wiesen und sieht, vor allem, wenn der Ring weg ist und er in seiner weißen Varietät auftritt, dem Wiesenegerling sehr ähnlich. Unterschiede sind: er riecht frisch nach nichts, später nach Karbol. Man hat Glück, wenn er in der Stielbasis gilbt, denn das muss er nicht (die Typuskollektion von Bohus hat auch gar nicht gegilbt). Das Fleisch rötet im Schnitt leicht, aber gut erkennbar - das darf der Wiesenegerling i.w.S. auch ein bisserl, aber nicht so deutlich. Daran kann man ihn also im Notfall auch ohne Nase erkennen.


    Die Warnungen vor Agaricus freirei und Agaricus pseudopratensis waren früher kaum nötig, da beide Arten als extrem wärmeliebend und mediterran verbreitet gelten. Letzterer gilbt zumindest manchmal, sodass man schon etwas Pech haben muss, wenn man ihn auf einer Wiese findet und verspeist.


    Witzigerweise kam dann eine Kollektion in die Münchner Pilzberatungsstelle - der Pilzberater kannte ihn aber schon, da er bei der Ausstellung im BayerWald mitwirkte und hat ihn direkt erkannt. Diese Kollektion kam aus dem Raum Passau - ebenfalls von einem Südhang (Donauleite).


    Der heiße Sommer scheint ihm genauso zu gefallen wie den Wiesenegerlingen. Ich habe heuer zeitgleich drei Arten sehen dürfen: Agaricus campestris s.str. und Agaricus pampeanus (beide bei mir in Mammendorf, gleiche Wiese) sowie Agaricus moellerianus (wurde zur Ausstellung mitgebracht). Dazu dann auch noch Agaricus pseudopratensis - also drei echte und ein falscher Wiesenegerling.


    Langer Rede kurzer Sinn:


    Pilzberater müssen aufpassen - sowohl rein rötende Egerlinge sind nicht per se essbar und Egerlinge, die in der Stielbasis nicht gilben und wie Wiesenegerlinge aussehen können ebenfalls problematisch sein. Der Klimawandel macht es spannend - es wandern neue Arten ein (Agaricus freirei), andere, die extrem selten waren, werden häufiger (Agaricus pseudopratensis).


    Nebenbei bemerkt: "Der Karbolegerling" ist ein ganzes Artenaggregat. Wer meint, "ihn" zu kennen, kennt nur ein / zwei Arten aus dem großen Komplex. Heuer habe ich auch Agaricus xanthodermulus / laskibarii sehen dürfen (Wien).


    Agaricus ist schwierig. Viel Spaß in der Pilzberatung mit Wiesenegerlingen und Waldchampignons... Also bitte hier unbedingt aufpassen und auch die Nase als Merkmalsdetektor gewissenhaft einsetzen - und eben sehr vorsichtig sein.


    Liebe Grüße,

    Christoph

  • Hallo Christoph,


    interessant! Danke für die Warnung! Ich bin zwar sowieso hier im Süden sehr vorsichtig mit den Champignons und nehme eigentlich nur deutlich nach Anis riechende zum Verzehr mit, (weil ich sowohl den geruchslosen als auch den karbolig riechenden bisher viel zu wenig begegnet bin), aber ich werde die Ausnahmen im Hinterkopf behalten.


    Ist natürlich ärgerlich für viele Sammler und Pilzberater jetzt, denn Champis sind ohnehin schon nicht besonders einfach auseinander zu halten. Aber darum kümmern sich die Pilze ja nicht. 8o

  • Toll, als ob Champignons nicht ohnehin schwierig genug wären...


    Naja, zumindest sind (noch) keine tödlich giftigen Arten bekannt. Man muss ja auch die positiven Seiten sehen...oder so.


    Danke für den Hinweis.

    Bin lediglich fortgeschrittener Anfänger.
    Posts sind nicht als Essensfreigabe zu verstehen. :-]

  • Gibt es schon eine Petition gegen das Einwandern dieser Gesellen? Ich will unterschreiben. g:(


    Neulich hatte ich ja mal "Wiesenchampignons" denen ich nicht recht trauen mochte. Nun rede ich mir natürlich ein daß dies aus gutem Grunde so geschehen sein könnte.

    Och mönsch! Eigentlich habe ich bislang gerne Champignons für die Pfanne gesammelt. Nun ist der Sammelspaß daran etwas getrübt. Die Neugier auf diese Einwanderer ist natürlich auch erwacht aber das Sammeln hat mir gestern doch noch deutlich mehr Spaß gemacht.

  • Hallo Christoph!


    Danke für deinen informativen und - wie immer - sachlich fundierten Beitrag!


    Ich möchte da gleich mal eine Frage anhängen:

    Ich war am 09.09. bei einer Pilzausstellung im Museum Joanneum in Graz. Dort gab es auch die Gelegenheit mit Fachleuten zu plaudern. Unter anderem habe ich mit Herrn Dr. Uwe Kozina (Leiter Arbeitskreis heimische Pilze) über Champignons gesprochen. Er meinte auch dass solchen "Champignonregeln" nicht zu 100% vertraut werden sollte. Es soll auch einen nach Anis riechenden Champignon geben, der magen-darm-giftig ist.

    Kannst du das bestätigen?


    LG Bernhard

  • Hallo Christoph,

    auch wenn du mein mühsam erarbeitetes Pilzwissen gerade wieder mal in den Grundfesten erschüttert hast, vielen Dank. Ich hoffe, dass es niemals so warm wird in meinen Gefilden, so dass ich von diesen giftigen Verwechslungspartnern verschont bleibe. Nur interessehalber: hilft hier im Zweifel Schäfer weiter?

    Lieben Gruß


    Claudia


    ...leben und leben lassen... ;)


    Hier im Forum gibt es grundsätzlich keine Verzehrfreigaben.

    Pilzsachverständige findest du hier.

  • Servus zusammen,


    danke für das positive Feedback :gcool:


    Bernhard:

    Mir persönlich ist kein heimischer, Magen-Darm-giftiger Egerling bekannt, der nach Anis riecht. Allerdings enthält Agaricus urinascens (=A. macrosporus) so viel Cadmium, dass er eigentlich schon giftig bzw. auf alle Fälle ungesund ist. Ich habe das hier mal zusammengefasst: Zum Speisewert bzw. zur Giftigkeit von Champignons (Gattung Agaricus)


    So enthält z.B. Agaricus augustus (Riesenegerling) 4 g Agaritin pro kg! Agaritin ist krebserregend. Agaricus sylvicola (inkl. A. essetei), also "der" Anisegerling immerhin 2,6 g Agaritin pro kg.


    Was das Cadmium angeht, so enthält besagter Agaricus urinascens um die 100 mg Cadmium pro kg (alles Frischmasse). Die WHO empfiehlt maximal 0,5 mg Cadmium pro Woche! Das bedeutet, man hat mit 5 Gramm Großer Anisegerling schon seine Wochenration Cadmium abgeholt. Geht man davon aus, dass 90% des Cadmiums aus dem Pilz nicht aufgenmommen werden, so kann man auch mal einen halben Fruchtkörper verdrücken. Ich weiß aber nicht, wie viel Cadmium bioverfügbar ist, wenn man einen so verseuchten Egerling futtert.


    Die Blei- und Quecksilbergehalte habe ich in dem oben verlinkten Thread auch beispielhaft genannt.


    Die Zahlen stammen natürlich nicht vin mir, sondern aus der Agaricus-Monographie von Parra, der wiederum die Primärquellen nennt, aus denen er die Infos hat.


    Gesund ist was andere...


    Wutzi:


    die Schaeffer-Reaktion hilft nicht weiter, da sie bei den beiden Arten negativ ist und auch bei den Waldegerlingen und den Wiesenegerlingen negativ ist (jedenfalls auf den nicht verletzten / gerubbelten / gegilbten Hutbereichen). Man kann damit Anisegerlinge und Zwergegerlinge (beide positiv) von den Karbolegerlingen unterscheiden, aber darum ging es hier ja nicht. Ich vermeide die Reaktion möglichst, da das Anilin doch recht giftig ist.


    Liebe Grüße,

    Christoph

  • Servus Satansbratling,


    die Werte sind Durchschnittswerte von normalen Böden. Die Blei- und Quecksilberbelastung hängt deutluch vom Boden ab, die Cadmiumbelastung soll nach Parra auch auf normalen Böden entsprechend stark sein.


    Liebe Grüße,

    Christoph

    • Offizieller Beitrag

    Hi Christoph,


    das trifft sich. Ich hatte den unlängst auch im Stadtgebiet von Dresden, zumindest ein Fruchtkörper, den ich als A. pseudocampestris bestimmt hab. Die Lamellenschneide war steril, Schaeffer-Reaktion negativ, Sporengröße und Zystidengröße passten sehr gut. Das Ding sah makroskopisch so aus, wie ein A. campestris mit einer schuppigen Zeichnung auf dem Hut, ähnlich A. moelleri.


    Ich stelle den Fund mal bei Gelegenheit ein. Ich brauch einen Experten, der den absichert. ;)


    l.g.

    Stefan

    Risspilz: hui; Rissklettern: bisher pfui; ab nun: na ja mal sehen...


    Derzeit so pilzgeschädigt, das geht auf keine Huthaut. :D


    Meine Antworten hier stellen nur Bestimmungsvorschläge dar. Verzehrsfreigaben gibts nur vom PSV vor Ort.

  • Als makroskopisches Merkmal für Agaricus freirei nennen die ital. Kollegen die "typischen dunklen Bänder" auf der unterseite des Stielringes.

    vgl.: Agaricus freirei - Funghi Non Commestibili o Sospetti - Funghi in Italia - Fiori in Italia - Forum Micologia e Botanica


    Kann dies jemand aus eigener Erfahrung bestätigen?


    LG

    Alex

    P.s.: hier noch der entsprechende Eintrag zu Agaricus pseudopratensis :

    Agaricus pseudopratensis - Funghi Non Commestibili o Sospetti - Funghi in Italia - Fiori in Italia - Forum Micologia e Botanica


    Und noch eine interessante PDF aus Fakreich zum Agaricus freirei:

    1514.pdf

  • Hallo,


    wichtig wäre ja nicht alleine die Schäffer-Reaktion, sondern zusätzlich noch die Reaktion auf KOH. Bislang galt, dass die Sektion Xanthodermatei durch negative Schäffer- aber positive KOH-Reaktion abgegrenzt war. Es wäre interessant, wie sich diesbezüglich A. freifrei und A. pseudopratensis verhalten.

    Also diejenigen, die solche Pilze finden (ich kenne beide nicht), bitte mal Schäffer und KOH testen.


    beste Grüße,

    Andreas

  • Hallo Christoph,

    Frage 1: weiß man, wer den Agaricus freirei aus der Berliner Gegend bestimmt hat?

    Frage 2: gibt es griffige makroskopische Positivmerkmale von A. freirei und A. pseudopratensis? Ix2 hat ja schon so etwas angedeutet.

    Frage 3: Als Pilzberater würde ich künftig schon noch gerne Champignons freigeben, aber dafür bräuchte ich diese Hilfe. Und Hinweise, dass althergebrachte "Champignon-Regeln" nicht mehr gelten, reichen mir nicht aus, sondern verwirren mich nur. Den PARRA-Band habe ich im Regal, nützt der hier was?

    FG

    Oehrling

    PSVs dürfen weder über I-Net noch übers Telefon Pilze zum Essen freigeben - da musst du schon mit deinem Pilz zum lokalen PSV!

  • Servus Oehrling,


    deine Fragen hatte ich bereits teilweise antizipiert: schau hier: Neue Giftpilze durch Klimawandel - Bayrischer Rundfunk


    Was Agaricus freirei angeht, habe ich nur kurz auf Pilze-Deutschland geschaut, aber da nicht die Hintergrundinfos abgerufen. Wenn das der Erstnachweis für Deutschland ist, dann wäre hier eine Sequenzierung sicher (bei so einer für die Praxis relevanten Art) sinnvoll und finanzierbar (z.B. DGfM). Und das unabhängig vom Bestimmer.

    Was Agaricus pseudopratensis angeht - da gibt es ja mehrere Funde in Deutschland.


    Was Agaricus pseudopratensis betrifft, gibt es makroskopische Erkennungsmöglichkeiten. Ich will das aber erst noch in aller Ruhe nachrecherchieren und durch Literaturstudium (inkl. Parra, aber auch drüber hinaus, z.B. die Angaben von Bohus selbst usw.) ausarbeiten. Das schaffe ich im Moment zeitlich nicht, ist aber für den Winter angesagt. Wir brauchen das ja für die Pilzberaterausbildung. ;)


    Liebe Grüße,

    Christoph



  • Zitat

    Was Agaricus pseudopratensis betrifft, gibt es makroskopische Erkennungsmöglichkeiten. Ich will das aber erst noch in aller Ruhe nachrecherchieren und durch Literaturstudium (inkl. Parra, aber auch drüber hinaus, z.B. die Angaben von Bohus selbst usw.) ausarbeiten. Das schaffe ich im Moment zeitlich nicht, ist aber für den Winter angesagt. Wir brauchen das ja für die Pilzberaterausbildung. ;)


    Hi Christoph,


    hast du hier zufällig neue Erkenntnisse? Wie hoch ist die Gefahr, die giftigen (?) Arten ajs Versehen frei zu geben und gibt es da inzwischen Einigkeit bezüglich des Vorgehens?


    LG, Emil