Hallo Nika,
ich habe noch ein paar Kleckse Senf zum Dazugeben, nachdem du schon ziemlich mit Senf überhäuft sein dürftest.
Klecks 1: In der Pilzwelt durchzublicken, so wie du es dir vorstellst, dauert Jahrzehnte und Aberjahrzehnte. Man darf das nicht mit irgendwelchen durchoptimierten Berufsfortbildungen vergleichen, die berufliches Fachwissen innerhalb von Wochen und Monaten anwendungsfertig vermitteln.
Klecks 2: es ist sehr von Vorteil, Latein und/oder Altgriechisch zu können, wenn man bei den wissenschaftlichen Pilznamen durchblicken will. Denn oft sind die wissenschaftlichen Pilznamen nur Beschreibung optischer (albobrunneum) oder sonstiger sensorischer (z. B. acerrimus oder amoenolens) Charakteristika in Lateinisch oder Altgriechisch, teilweise direkt aus dem Deutschen übersetzt. Manchmal ist es schon von Vorteil, wenn man auf einem humanistischen bzw. altsprachlichen Gymnasium war und die Altsprachen in der Schule irgendwann hatte und davon sogar einiges hängengeblieben ist.
Klecks 3: ich kann nicht den einen "Gamechanger" benennen, der dazu geführt hätte, dass ich von einem Tag auf den anderen einen Gattungsüberblick entwickelt hätte. Es war das jahrzehntelange, ständige, dauerhafte, beharrliche Beschäftigen mit Pilzen, also immer wieder in den Wald gehen, Pilze einsammeln, und diese dann - selber, also ohne fremde Leute um Bestimmungshilfe zu bitten - zu bestimmen. Dann kam das so ziemlich von selber - mit den Jahren.
Klecks 4: das Beste, was ich zur Erlangung von Gattungsübersicht bekommen habe, war zum Einen das Erlernen zielführender Bestimmungsmethodik auf den Gminder-Seminaren (seit dem war mir klar, Pilze muss man tatsächlich nicht Art für Art auswendig lernen, sondern kann sie sich tatsächlich quasi herleiten!) und zum Anderen das Sporenfarbe-Habitus-Wuchsweise-Konzept auf einem Wergen-Seminar. Als Erstes muss man bei Lamellenpilzen auswendig lernen, welche Gattungen welche Sporenpulverfarbe haben. Ohne das geht meiner Meinung nach gar nichts. Danach muss man erlernen, welche Habitustypen ("dieser Pilz sieht aus wie ein Ritterling, ein Rübling, ein Schüppling, ein Schirmling, ein...") es gibt, und dies mit der jeweiligen Sporenpulverfarbe und Wuchsweise (auf Boden, auf Holz, einzeln, gesellig, rasig, büschelig...) kombinieren. Ist man soweit, ist man vor Fehlbestimmungen gefeit, die nicht nur knapp daneben, sondern komplett absurd sind. Ist man einmal da angekommen, dass einem keine solchen absurden Fehlbestimmungen mehr unterlaufen, hat man ein sehr wichtiges Etappenziel erreicht.
Und dann noch Klecks 5: nicht zu schnell zu viel auf einmal wollen. Z. B. ist es utopisch, dass man innerhalb weniger Jahre dahin kommt, jeden zufällig im Wald rumstehenden Pilz bestimmen zu können. Für das sind Pilzbücher auch gar nicht ausgelegt. Stattdessen sollte man sich vornehmen, an einem Exkursionstag beispielsweise nur Röhrlinge, oder nur Pilze mit Hut und Stiel an Holz, oder nur Amanitas, oder nur Milchlinge, oder nur oberirdische Stäublinge anzuschauen und einzusammeln und alles andere links liegen zu lassen. Denn das kann man ja noch nächstes Mal erledigen. Die Exkursion wäre dann ein Erfolg, wenn man an diesem Tag tatsächlich nur Wulstlinge erwischt hat, oder nur Täublinge, oder nur Schmierröhrlinge, oder nur... Selbstbeschränkung ist enorm wichtig, dass das Erlernte zwischen den Ohren auch hängenbleibt und nicht Wochen später wieder vergessen wird. Dieses Nicht-wieder-Vergessen ist ja das Wichtige am Wissenserwerb, nicht das erstmalige Erlernen. Aber das gilt ja für alles zu Erlernende.
FG
Oehrling